Das Leichenwärterhaus auf dem Friedhof in Wismar

In Wismar steht ein verlassenes Gebäude mit spannender Geschichte. Es ist eines der wenigen norddeutschen Zeugnisse einer sepulkralen Sozialgeschichte, die seinesgleichen sucht. Über das „Ehemalige Leichenwärterhaus“ berichtet Dr. Anja Kretschmer.

  • Schaufassade auf der Gartenseite – Detail der Arkadenhalle mit großzügigen Rundbogenfenstern.Foto: Anja Kretschmer

    Schaufassade auf der Gartenseite – Detail der Arkadenhalle mit großzügigen Rundbogenfenstern.Foto: Anja Kretschmer

  • Schaufassade, Ansicht vor der Türrekonstruktion.Foto: Anja Kretschmer

    Schaufassade, Ansicht vor der Türrekonstruktion.Foto: Anja Kretschmer

  • Kolorierte Lithographie (1842) von Carl Canow, Ansicht der Stadt Wismar vom Friedhof aus. Foto: Anja Kretschmer

    Kolorierte Lithographie (1842) von Carl Canow, Ansicht der Stadt Wismar vom Friedhof aus. Foto: Anja Kretschmer

  • Türrekonstruktion (2022) nach Entwurf für das ehemalige Leichenwärterhaus aus dem Jahre 1832.Foto: Anja Kretschmer

    Türrekonstruktion (2022) nach Entwurf für das ehemalige Leichenwärterhaus aus dem Jahre 1832.Foto: Anja Kretschmer

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Nie waren die Menschen unsicherer, was die Feststellung des Todes anging, als im späten 18. und dem Verlauf des 19. Jahrhunderts, als zahlreiche Berichte von Scheintoten die Welt in Angst und Schrecken versetzten.
Betritt man den Friedhof in Wismar, so fällt das leer stehende Gebäude am Südende sofort ins Auge. Ein klassizistischer Bau mit Arkadenhalle und DDR-Putz thront auf der höchsten Stelle des Gottesackers – majestätisch und doch ein wenig trostlos. Über den Zweck dieses Sepulkralbaus klärt eine Infotafel auf: „Ehemaliges Leichenwärterhaus" steht darauf. Doch trotz Erläuterung bleiben viele Fragen offen. Hat darin jemand gewohnt? Wozu gab es einen Leichenwärter? Was passierte in diesen historischen Hallen?

Die Geschichte des Friedhofs

Dafür muss man zurück in die Anfänge der Friedhofsanlage schauen. „Sie [Wismar] würde jetzt nachdem auch Rostock einen Gottesacker außerhalb der Thore angelegt hat, wohl der einzige Ort in ganz Norddeutschland seyn, wo noch Beerdigung der Todten in den Kirchen stattfinden", äußerte 1831 Bürgermeister Anton Johann Friedrich Haupt (1800–1835) und forderte damit die endgültige Verlegung der Friedhöfe außerhalb der Stadt, die bereits 1791 vom Tribunalpräsidenten und später von der Schwedischen Kommission angeordnet worden war. Der Bürgermeister war es auch, der sich Anregungen in Koblenz und Darmstadt holte, um eine gemäß dem damals modernen Zeitgeschmack entsprechende gartenähnliche und freundliche Friedhofsanlage zu planen. Der Ort, den er dafür auserkoren hatte, erfüllte zwar alle notwendigen hygienischen, geografischen und zweckmäßigen Anforderungen, doch sträubten sich die Wismarer gegen den Platz vor dem Mecklenburger Tor, stand doch genau dort auf dieser Anhöhe noch zwei Jahre zuvor der Galgen. Niemand konnte sich mit dem Gedanken anfreunden, dort seinen Frieden zu finden, wo jahrhundertelang Straftäter erhängt worden waren.
Haupt, der sich durch „Beweglichkeit des Geistes" auszeichnete, verfügte entgegen den Vorurteilen, sich genau dort, wo der Galgen gestanden hatte, eine Grabstelle einzurichten, auf welcher er bereits vier Jahre später bestattet werden sollte. Und was der Bürgermeister kann, können doch auch die restlichen Bürger?! Noch dazu, wo er zehn der schönsten Plätze auf dem Gelände für Familien reservierte, die ihre traditionellen Erbbegräbnisse in den Kirchen aufgeben mussten.

Bekämpfung des Scheintodes

Am 24. Oktober 1831 fand daher bereits die kirchliche Weihe statt und ein halbes Jahr später holte das eigens gegründete Gottesackerdepartement einen Kostenvoranschlag zur Errichtung eines Leichenhauses bei Maurermeister Gaster nach Entwurf von Johann Gottfried Martens ein, Mitglied des Departements und Eigentümer des größten dortigen Mausoleums.
Hintergrund dieses Auftrages war die Angst vor dem Scheintod, die zu dieser Zeit ihren Höhepunkt erreicht hatte. Dass der Übergang vom Leben zum Tod nicht eindeutig festzustellen war, bezeugten bücherweise Beispiele von vermeintlichen Scheintoten, die in ihren Gräbern gefunden worden waren – allerdings erst, nachdem jegliche Hilfe zu spät kam. Grauenhafte Geschichten von Kratzspuren auf den Innenseiten der Sargdeckel, qualvollen Geburten und aufgerissenen Mündern, die unhörbar nach Hilfe geschrien hatten, kursierten durch die ganze Welt und führten zu einer regelrechten Hysterie unter den Lebenden.
Wie konnte man sicher sein, nicht lebendig begraben zu werden und unter der Erde eines schrecklichen Erstickungstodes zu sterben? Neben Erfindungen zur besseren Bestimmung des Todes, die sich bisher auf Überprüfung der Atmung und des Pulses beschränkt hatten (das Stethoskop wurde erst Mitte des 19. Jahrhunderts erfunden), traten Ideen zur Rettung der Scheintoten aus den Gräbern mittels Rettungsglocke oder Sprachrohr auf den Plan.
Die Erfindung der Elektrizität ab 1750 trug jedoch dazu bei, dass die Grenze zwischen Leben und Tod noch mehr verschwand, da man zu der Überzeugung kam, die Lebenskraft dank elektrischer Reize neu wecken zu können. Erst zahlreiche Experimente mit Verstorbenen konnten das Gegenteil beweisen und man kam einhellig zu der Überzeugung, dass nur der Körper allein eindeutige Zeichen des Todes aufweist, wenn man ihn nur lange genug noch über der Erde belässt.

Entstehung der Leichenhallen

Deshalb wurden Forderungen nach längeren Karenzzeiten laut. Mindestens acht Tage hieß es dort. „So lange muss die wahre Liebe dem Entschlafenen noch den Aufenthalt bei sich gestatten", schrieb Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836) in einem Aufruf an die Bürger, in dem er den letzten Dienst am Verstorbenen als „Liebesdienst" bezeichnete. Schlussendlich mündeten diese Fristen in der Errichtung von Leichenhäusern, in denen die Verstorbenen aufgebahrt wurden bis sie unverkennbare Verwesungsmerkmale offenbarten.
Diese Bestrebungen berücksichtigend ließ Wismar eine Leichenhalle errichten, in der nicht wie üblich der Totengräber wohnte, sondern ein Leichenwärter. Damit ist Wismar der einzige Ort in Mecklenburg-Vorpommern, in dem es den Beruf des Leichenwärters gab.
Im Stadtarchiv sind noch einige Bewerbungsunterlagen von Wismarer Bürgern aus dem Jahre 1832 erhalten geblieben. Männer, die aufgrund von Krankheit oder Unfall ihre Arbeit nicht mehr verrichten konnten, sahen in der Ausschreibung dieser neuen Stelle Hoffnung auf Linderung ihrer finanziellen Not. Darin heißt es unter anderem: „...ich bin ein junger, gesunder und von aller Furcht freier Mann." Charakterliche Voraussetzungen für dieses Amt war ein „friedlebendes und rechtlich betragenes" Wesen, welches sich durch Ehrlichkeit, Diskretion und Fleiß auszeichnete. Im Gegenzug zur beruflichen Bürde eines Leichenwärters bekam dieser unentgeltlichen Wohnraum (mit integriertem Aufbahrungsraum direkt neben dem Schlafzimmer), einen Garten sowie einen kleinen Stall zur Eigenversorgung zur Verfügung gestellt nebst der Garantie auf ruhige Nachbarn.
Den frühklassizistischen Stil rezipierend, steht das Gebäude seit 1986 unter Denkmalschutz. Mit seiner Ausführung – großzügigen Rundbogenfenstern auf der Gartenseite und dreiachsigem Arkadenbogen an der Schaufront – griff der Baumeister die zeitgemäße Architektonik für Friedhofsgebäude im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts auf. Bedenkt man, dass der Bautyp der Leichenhalle im Aufschwung begriffen war (erst 1792 entstand in Weimar das erste Leichenhaus), ist dieses Gebäude für die Sepulkralgeschichte Norddeutschlands ein wegweisendes und bedeutsames Exempel. Die meisten Leichenhallen existieren nicht mehr, wurden später errichtet – so wie die Leichenhalle auf dem Schweriner Alten Friedhof von 1864 – oder gingen aus ehemaligen Grabkapellen und anderen Friedhofsgebäuden hervor.


Das Schicksal des Leichenwärterhauses

Nachdem um 1910 die Leichenhalle aus hygienischen Gründen – wurden dort doch auch Sektionen durchgeführt – an das neu entstandene Krankenhaus angegliedert wurde, starb damit auch der Beruf des Leichenwärters aus. Bis in die 1970er Jahre wohnte der Friedhofsverwalter in dem Gebäude, veränderte die Raumstruktur und ließ die Fassade neu verputzen. Eine Sargtischlerei wurde angebaut, das Gebäude selbst als Materiallager und Werkstatt genutzt. Seit der Wende steht das Gebäude leer. Glücklicherweise ließ die Stadt 2000 das Dach neu decken. Seitdem verharrt es im Dornröschenschlaf. Wäre da nicht der Friedhofsverein, der sich 2014 in Wismar gegründet hatte. Seitdem wird das ehemalige Leichenwärterhaus im Rahmen von Veranstaltungen für Besucherinnen und Besucher geöffnet und die spannende und einmalige Geschichte des Hauses wieder und wieder erzählt.
Neben Fensteraufarbeitungen konnte der Verein die historische und äußerst repräsentative Eingangssituation getreu des Entwurfs von Martens wieder herstellen sowie die Westfassade in ihren ursprünglichen Zustand rückführen. Fördergelder von der Sparkassen- und Bürgerstiftung flossen ebenso mit ein wie private Spendengelder. Das Gebäude nimmt jegliche kosmetische Behandlung dankbar an. Daher hat sich der Verein entschlossen, das Gebäude von der Stadt zu pachten, um kontinuierlich die Erhaltung und Restaurierung voranzubringen und geeignete Nutzungsideen zu entwickeln. Als nächstes werden seitens der Stadt Toiletten in das Gebäude eingebaut. Der Verein übernimmt die Aufarbeitung des Dielenfußbodens und der Türen und möchte die Raumstruktur wieder herstellen. Bereits seit einigen Jahren wird das Leichenwärterhaus als Veranstaltungsstätte für Lesungen, Musikdarbietungen und Ausstellungen genutzt. Künftig sollen weitere derartige Projekte folgen. Das Haus soll ein Ort der Begegnung werden – ein Haus des Lebens inmitten der Toten. Übrigens, von den Toten aufgewacht ist in diesem Haus noch niemand.


Foto: G. Schaller

Zur Person

Dr. Anja Kretschmer, Rostock
ist Kunsthistorikerin, Friedhofsforscherin, Trauerrednerin und Vorsitzende des Vereins zur Förderung der Friedhofskultur in Wismar e.V.